Mitte September ist „Wolkenschieber“ von In Extremo über Vertigo / Universal Music erschienen. Im titelgebenden Track geht es um die Entstehungsgeschichte von „Wolkenschieber“. Diese beginnt 1874 „als der Berliner Apotheker Schultze nach langem Experimentieren einen „Special-Liqueur“ erfindet, der sich schon bald als Heilmittel riesiger Beliebtheit erfreuen sollte. Ein hochprozentiges Allzweck-Elixier, das bei Verdauungsstörungen ebenso seine wundersame Wirkung tat wie bei Liebes-Unlust, Schmerzen aller Couleur oder allgemeiner Schwermut.“ Dagegen halfen ein bis drei Gläschen des Getränks.
„Das Leben zu Zeiten Otto von Bismarcks hat viele Parallelen zur Gegenwart“, erklärt Bassist Kay Lutter. „Es herrschte eine unglaubliche Armut, große Wohnungsnot und politischer Tumult – etwas, was leider auch heute wieder sehr präsent ist. Schon damals haben sich die Leute in diesen Wirren danach gesehnt, ihre Sorgen zwischendurch für ein paar Momente runterzuschlucken und einfach unbeschwert zu sein. Genau dieses Gefühl versuchen wir, auf dem neuen Album zu transportieren. Wir haben unsere ganz eigene Version dieses Trunks gebraut: ‚Wolkenschieber‘ 2.4.!“
Die Rough Demos wurden Berliner Studio von Sebastian Lange erarbeitet, danach ging es ab Dezember 2022 in verschiedenen Etappen in die Principal Studios bei Münster. Dort arbeiteten sie mit ihrem eingespielten Producer-Team Vincent Sorg (Die Toten Hosen, Kreator, Fury In The Slaughterhouse) und Jörg Umbreit (Extrabreit, Slime, Fiddler`s Green) am Feinschliff der insgesamt 12 neuen Tracks. Schlagzeuger Specki erzählt aus dem prall gefüllten Band-Nähkästchen: „Wenn sich sechs erwachsene Herren, die einem guten Tropfen und der Feierei nicht abgeneigt sind, in ein Haus auf dem Lande zurückziehen, kann man sich lebhaft vorstellen, was dort passiert. Die Kaltgetränke sprudeln, es wird streng basisdemokratisch über neue Songideen abgestimmt und natürlich im Nachgang standesgemäß auf neue Beschlüsse angestoßen. Aber mal ernsthaft: Uns ist wichtig, die ganze Band regelmäßig an einen Tisch zu bekommen. Wenn es die Zeit zulässt, kochen wir auch zusammen und sind nach dem Essen oft noch in Spiellaune, so dass wir nicht selten eine kleine Mitternachts-Session einlegen. Auch wenn die Produzenten schon lange im Bett liegen. Micha ist ja dafür bekannt, dass er sehr gerne abends einsingt.“
Von “Weckt die Toten” gibt es eine neu eingespielte Version, auf der Micha Rhein diesmal im Duett mit Rauhbein-Frontmann Henry M. Rauhbein zu hören ist. In „Katzengold“ singt sich die Gruppe ihren aufgestauten Frust über all jene heraus, die nicht zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden können. Oder wollen. Laut Kay Lutter einer der politischsten Songs, die die Band je geschrieben hat. „Eigentlich hatten wir beschlossen, uns in den Songs nie politisch zu äußern. Seit ‘Quid Pro Quo’ hat sich dies geändert. Wenn man sich heute die explosive Stimmung in der Welt anschaut, kann man nur den Kopf darüber schütteln, wie gewisse Dinge in einem Land mit unserer dunklen Vergangenheit schon wieder passieren können und sich die Geschichte direkt vor unseren Augen wiederholt. Statt aus den Fehlern zu lernen, begehen wir sie zum zweiten Mal. Der Song ist ganz klar gegen alle Hetzer, Spalter, Verschwörungsanhänger, Populisten und sonstige homophoben Idioten gerichtet. Fuck you!“
Auch bei “Unser Lied” gibt es ein Feature in Form von Santiano-Sänger Björn Both, bei dem Abschiedssong “Feine Seele” ist an der Nyckelharpa Oliver “SaTyr” Pade von Faun zu hören. Neue Deutsche Welle-Ikone Joachim Witt ist bei “Des Wahnsinns fette Beute” mit seiner leicht erkennbaren Stimme zu hören. Joey und Jimmy Kelly leihen ihre Stimmen dem Stück “Aus Leben gemacht”. „Wir sind nicht nur ewig mit den Kellys befreundet,“ erklärt Basti. „Auch in unseren jeweiligen Biographien gibt es viele Parallelen. Beide Bands haben ihre Ursprünge auf der Straße und wurden in ihren Anfangstagen oft belächelt. Trotzdem – und das darf in aller Bescheidenheit gesagt werden – haben sich sowohl die Kellys als auch In Extremo zu Legenden entwickelt. Wir haben damals ihren Superhit ‘Why Why Why’ gecovert; nun war es Zeit, unsere Freundschaft endlich öffentlich zu besiegeln.“
„Katzengold“ bezieht nicht nur klar Stellung und ist politisch, sondern ist nur ein Vorgeschmack auf weitere Stücke dieser Art. „Schweine“ – einer, der beiden Bonustracks (der andere ist „Das Totenschiff“) – ist ebenfalls sehr, sehr deutlich. Und auch, dass es einen „Wolkenschieber“ benötigt, kann als Vorzeichen gedeutet werden. Zurecht. Außerdem steht es der Band verdammt gut.
Auf der anderen Seite verursachen Stücke wie „Feine Seele“ eine schöne Gänsehaut. Gerade, wenn man die Platte zufällig an einem Todestag hört und der Song läuft. Daher passt auch „Wolkenschieber“ als Titelsong ganz gut an solchen Tagen. Hilfe zum Verdrängen, Ablenken. „Terra Mater“ ist getragen, episch und relativ ruhig, aber auch orchestral. Ungewohnt.
Neben den härteren „Schweine“ gibt es auch noch „Das Totenschiff“ – danke der beiden Bonustracks, gibt es vierzehn Stücke bis die Platte zu Ende ist. Bei der Standardversion wäre nach „Terra Mater“ Feierabend. So gefällt es mir besser und empfinde ich als passender.
Mit über fünfzig Minuten gibt es einiges auf die Ohren und ich kann allen Stücken viel abgewinnen. Ich mag das Stellungbeziehen genauso wie Gefühle besingen, ebenso das Fantastische („Blutmond“). Die ruhigen wie lauten Momente. Für mich rundum gelungen und eine Wohltat. Sehr schön!
IN EXTREMO – „Wolkenschieber“
Album Veröffentlichung: 13.09.2024
Vertigo/ Universal Music