Der neue Fall in „Die Beichte des Gehenkten” von Ann Granger beginnt für Inspector Ross ungewöhnlich. Er wird zu einem bereits zum Tode Verurteileten gerufen, der am Abend vor seiner Hinrichtung beichtet, vor 16 Jahren einen Mord beobachtet zu haben.
Wie beabsichtigt fängt Ross bei der detailgenauen Beschreibung Feuer, auch wenn seine Vorgesetzten keinen Grund für Ermittlungen erkennen. Ross` Ehefrau Elizabeth macht sich dann auch sofort daran, Erkundigungen einzuziehen, natürlich mit Unterstützung ihres Mädchens Bessie und des Kutschers Wally Slater. Und tatsächlich scheinen alle Details aus der „Beichte” zu stimmen, außer dass der vermeintliche Mord an einem alten Landherrn damals als natürlicher Tod eingeschätzt worden ist.
Scotland Yard jedoch wird erst hellhörig, als der Fund einer Leiche gemeldet wird- der Haushälterin aus eben diesem Hause. Inspector Ross beginnt zu ermitteln.
Zeitgleich muss Ross an einer Vermisstenanzeige arbeiten. Der aufgeblasene Hubert Canning hat seine Ehefrau mitsamt kleiner Tochter als vermisst, wenn nicht gar entführt gemeldet. Und da wird Insepctor Ross stutzig.
Hat er nicht auf dem Rückweg aus dem Gefängnis nach der „Beichte” eine Frau unter den Brückenbögen getroffen, die offensichtlich aus gutem Haus stammte und versuchte, ein kleines Kind zu trösten? Ross gibt sich nun die Schuld, die Frau schutzlos auf der Straße gelassen zu haben, weil er innerlich zu sehr mit dem vorher Gehörten beschäftigt gewesen ist. Somit nimmt er es fast schon als persönliches Ziel, die Vermissten zu finden. Und bei der Suche findet er zunehmend Ungereimtheiten in der Geschichte des Ehemanns. Hatte die junge Frau vielleicht gute Gründe, aus eigenem Willen wegzulaufen?
Erneut entführt Ann Granger in das viktorianische England. Und erneut erwacht dieses auf jeder Seite und mit jedem Röcke-Rascheln und Pferdegetrappel zu Leben. Die beiden Kriminalfälle- besser gesagt sind es ja mit dem vermeintlichen Mord vor 16 Jahren sogar drei- laufen eher etwas gemächlich ab.
Dies jedoch ist sehr passend zu dem eher ländlichen Putney als Schauplatz des Mordes. Die weiten Strecken- nicht jede Kutschfahrt ist als Spesen abzurechnen!- und die dickköpfige Dorfgemeinschaft, die lieber alles für sich behält als etwas mit der Polizei zu schaffen zu haben, verlängern die Ermittlungen immens. Dennoch ist die Indiziensuche durchaus spannend, und die Schilderung der Lebensumstände zum Teil wirklich erschreckend, z.B. das Schicksal der drei kleinen Gassenjungen, oder, dass Frauen eben ohne männlichen Familienangehörigen quasi keinerlei Rechte haben.
Die Auflösung der Fälle erschien mir dann vergleichsweise plötzlich und leicht hölzern. Ein wenig Versöhnung gab es dann noch auf den letzten Seiten, wo sich der Überführte zunächst sehr sicher war, dass die Beweise vor Gericht nicht ausreichen würden, und man tatsächlich schon die Gerechtigkeit an den Hürden der Justiz scheitern sah. (Achtung Spoiler: Rettung gelingt in quasi letzter Sekunde).
Also, insgesamt ein wirklich lesenswerter Band, der sich perfekt in die Vorgänger-Reihe einfügt. Einzig die Geschichte von Elizabeth und Benjamin tritt immer mehr für die Kriminalfälle in den Hintergrund. Spannend und lebendig geschrieben ist es ein wunderbares Buch zum einfach mal Abschalten.